08 "Herr Kollege…"
Kurzbeschreibung: Starke Persönlichkeit, Tendenz zur Selbstgefälligkeit, Kämpfernatur, redet nicht drumherum, echter Alkoholiker und einige andere Schwächen, das sind die Attribute, die mir zunächst einfallen, wenn ich an einen meiner früheren Chefs denke – für manche im Büro ein echter "Angstchef". Ich selbst kam mit ihm gut klar, indem ich mich ausschließlich auf die sachlichen Aspekte unserer Bürobeziehung beschränkte und die Eigentümlichkeiten seiner Persönlichkeit mit einem gewissen Abstand ignorierte. Sein Spitzname lautete "B…" Er kannte ihn, und was er dazu sagte, war ebenfalls bezeichnend für ihn: "Ihr könnt mich ruhig 'B…' nennen – solange ihr mich respektiert", sagte er einmal im Büro.
Dennoch geriet ich eines Tages in voller Büroöffentlichkeit mit ihm in eine heftige Auseinandersetzung über einige Zahlen, die man mir "jetzt und sofort" abverlangt hatte, die dann zugleich und ohne mein Wissen in einer wichtigen Kundenbesprechung verwendet wurden, und die sich dann als fehlerhaft erwiesen. Als ich die Zahlen weitergab, verband ich dies zwar mit einem ausdrücklichen Hinweis auf die vorläufige Qualität des Zahlenmaterials aufgrund des Zeitdrucks, dem ich ausgesetzt war und die Notwendigkeit einer sorgfältigeren Überprüfung des komplexen Zusammenhangs. Aber dies war wohl im Eifer des Gefechts untergegangen. Kurzum, die falschen Zahlen gingen irgendwie auf meine Kappe, das Ignorieren meiner Warnung und des Hinweises auf die Umstände des Zustandekommens auf seine. Unser Streit endete damit, dass der Chef kehrtmachte und offenbar wutentbrannt in sei Büro stampfte und die Tür zuschlug.
Kurze Zeit später – ich saß mit dem Gesicht zum Fenster und hatte den Rest des Büros nicht im Blickfeld – trat eine eigentümliche Stille um mich herum ein. Hierdurch aufmerksam geworden, bemerkte ich aus dem Augenwinkel, dass jemand hinter mir stand – mein Chef, wie ich bemerkte, als ich mich umwendete. Da stand er nun, schweigend, in aufrechter Haltung mit unbewegter Miene und wartete. Ich packte im Geiste bereits meine Sachen. Einem Instinkt folgend, stand ich auf und drehte mich zu ihm um, um ihm auf gleicher Augenhöhe zu begegnen. Einige Sekunden sahen wir uns ohne Worte an, bis er dann endlich das Eis brach. Schon seine Anrede erstaunte mich: "Herr Kollege!", begann er. "Sie hatten vorhin recht. Ich entschuldige mich!" und steckte mit die Hand entgegen. Ich ergriff sie, nickte mit dem Kopf und sagte so etwas wie "Es ist in Ordnung", worauf er sich etwas formell verbeugte und ohne weitere Worte und ohne den Blick nach rechts oder links zu wenden, in sein Büro zurückkehrte. Das Büro atmete hörbar durch, ich selbst war baff. Mit diesem kleinen Ritual vor allen Mitarbeitern und mit weniger als zehn Worten hatte mein Chef die Spannung aus der Welt geschafft und sich den Respekt seiner Mannschaft gesichert. Noch heute bin ich beeindruckt von dieser Geste insbesondere, da sie "von oben nach unten", mir gegenüber, dem beinahe jüngsten Mitarbeiter des Büros, gezeigt wurde.
Wat lernt uns das?
In Kurzform: Respekt schafft Respekt!
Einen Fehler einzugestehen und durch geeignete Worte wieder aus der Welt zu schaffen, zeugt von Souveränität und Respekt gegenüber betroffenen Personen. Jemand der so handelt, signalisiert damit, dass recht haben keine Frage der Hierarchie und des Status ist, sondern eine Frage der zwischenmenschlichen Anerkennung und der Fairness. Dies macht den entscheidenden Unterschied zwischen autoritär und Autorität aus. Einem Untergebenen wird es leichter fallen, Schwächen seines Vorgesetzten zu akzeptieren (und wer hätte keine?), wenn er das Gefühl hat, selbst respektiert zu werden. Umgekehrt kann kein Chef echte Loyalität erwarten, wenn er seinen Machtanspruch nur aus seiner hierarchischen Position und nicht aus der Integrität seiner Persönlichkeit bezieht. Respekt dem Menschen gegenüber darf keine Frage der Position und keine Einbahnstraße von unten nach oben sein. Dies ist im Übrigen nicht nur ein Thema des Umgangs mit Fehlern und Schwächen. Es ist eine generelle Frage der Einstellung zu Mitarbeitern und Vorgesetzten. Die Menschen haben ein feines Gespür dafür wahrzunehmen, ob sie respektiert werden oder nicht. Falsche Jovialität von oben nach unten wird i.d.R. genau so schnell entlarvt wie Speichellecken von unten nach oben – und dieser siebte Sinn funktioniert über alle Schranken hinweg, berufliche Hierarchien wie soziale Klassen, Geschlechtsunterschiede wie auch Weltanschauungen.