Si tacuisses...
"Wenn Du geschwiegen hättest..." Am Ende des gewonnenen Prozesses denke ich an dieses lateinische Sprichwort und kann eine gewisse Schadenfreude nicht leugnen. Aber der Reihe nach:
In einer norddeutschen Hansestadt steuere ich für meinen Auftraggeber den Umbau eines Geschäftshauses. Mit der Stadt ist vertraglich die Gewährung eines größeren finanziellen Zuschusses zur Fassadengestaltung vereinbart. Nach Abschluss der Bauarbeiten beantragen wir für den Bauherrn die Auszahlung des Zuschusses. Obwohl alle Regelungen des Vertrags eingehalten wurden, verweigert die Stadt unter fadenscheinigen Begründungen die Zahlung und fordert Nachweis um Nachweis. Die Antwort ist immer gleich: Nein! Konkrete Aussagen oder Hinweise, was sich die Herren Beamten als Nachweis vorstellen, sind nicht dabei. Der Aktenordner füllt sich und droht nach Monaten des Schriftverkehrs und wiederholten Anläufen zur Lösung fast zu platzen. Kurz vor dem Ablauf der Verjährungsfrist reicht es dem Auftraggeber und er reicht Klage gegen die Stadt ein.
Heute ist der Tag der Verhandlung und ich betrete in Begleitung des Rechtsanwalts das Gericht. Im Vorraum des Verhandlungsraums treffen wir auf eine Gruppe von sieben bis acht Personen, die sich sogleich als Vertreter der Stadt outen, indem sie nach kurzer Rückfrage zum Grund unseres Erscheinens sofort auf uns einreden und uns klarmachen, dass "wir", gemeint ist unser Auftraggeber, im Unrecht seien, die erforderlichen Nachweise nicht erbracht worden seien und überhaupt... Wir lassen uns auf keine Diskussion ein und ziehen uns auf eine Bank in einiger Entfernung zurück, von wo aus wir die interne Fortsetzung der z.T. erregten Debatte über diese Angelegenheit verfolgen.
Es ist soweit. Die Verhandlung beginnt. Ein Vertreter der Behörde sitzt mit der gegnerischen Rechtsanwältin vorn vor dem Richtertisch, während die Kollegen auf den Besucherstühlen Platz genommen haben. Der Richter lässt sich von beiden Seiten den Sachverhalt noch einmal schildern und beginnt dann, verschiedene juristische Szenarien zu entwickeln, die für die Haltung der Stadt sprechen, um sie dann - zu meiner großen Erleichterung - anschließend, juristisch begründet, wieder zu verwerfen. Endlich kommt er zu einem Szenario, das mir wesentlich besser gefällt, einer positiven Begründung des Anspruchs unseres Auftraggebers. Zu meiner großen Überraschung bezieht er nun klare Position und kündigt an, der Klage zu 100% stattgeben zu wollen. Er verbindet dies mit der Empfehlung an die Stadt, aufgrund der eindeutigen Lage ein Anerkenntnisurteil zu akzeptieren, nicht ohne darauf hinzuweisen, dass die Anfechtung seiner Entscheidung in der nächst höheren Instanz kaum Aussicht auf Erfolg haben dürfte. Ich lasse mich später aufklären, dass es sich dabei um ein endgültiges, nicht mehr anfechtbares Urteil handelt, zu dem der Richter auch keine ausführliche Urteilsbegründung schreiben muss, da die unterlegene Partei das Ergebnis des Richterspruchs direkt und vorbehaltslos anerkennt.
Nach ein paar Sekunden der Schockstarre meldet sich nun aus den Zuschauerreihen der Mitarbeiter der Stadt, der uns über die Monate "gequält" hat und bekommt das Wort. Im Angesicht der drohenden Niederlage, die er offensichtlich als ganz persönliches "Unrecht" empfindet, legt er nun los, schildert wortreich sein Engagement, seine Verpflichtung zur Wahrung des öffentlichen Interesses, seine Verantwortung gegenüber dem Bundesrechnungshof und, nein, man wolle ein "richtiges" Urteil. Der Rechtsanwalt und ich schauen gespannt auf den Richter, dessen Mimik steigenden Unwillen verrät. Der "Verteidiger der öffentlichen Interessen" setzt sich endlich. Nach einer bedeutungsschwangeren Pause holt der Richter Luft.
"Bevor Sie Angst haben vor dem Bundesrechnungshof", sagt er, während er den überraschten Beamten fixiert, "sollten Sie Angst haben vor meiner Urteilsbegründung. Da schreib' ich nämlich rein, welchen Mist die Verwaltung hier gebaut hat!"
Rechtsanwalt und ich wechseln einen kurzen Blick, ohne auch nur eine Miene zu verziehen. Es ist gut, den Mund zu halten. Es könnte nicht besser laufen. Die gegnerische Rechtsanwältin zieht die Notbremse und bittet um eine kurze Verhandlungspause. Der Richter nickt. Das Grüppchen verlässt mit betretenen Gesichern den Verhandlungssaal. Nach fünf Minuten kehrt man zurück und nimmt Platz. Die Anwältin sagt, an den Richer gewandt, nur zwei Worte: "Wir akzeptieren!"
Später auf dem Bahnsteig, auf dem wir auf unseren Zug zur Rückkehr warten, schlägt sich der Rechtsanwalt vor Vergnügen auf die Schenkel und führt - ich erkennen den trockenen, beherrschten Juristen nicht wieder - ein kleines Tänzchen auf. "Ab und zu braucht man auch mal so ein Ergebnis", meint er. Recht hat er.
Wat lernt uns das?
Die übertriebene und ausschließliche Selbstwahrnehmung innerhalb einer Gruppe, die Gegenmeinungen ausschließt und verstärkt wird durch die Zustimmung und Bestätigung der Kollegen, die im gleichen Boot sitzen, führt machmal zu Betriebsblindheit, Scheuklappen vor der Realität und am Ende zu Fehleinschätzungen und Fehlentscheidungen. "Groupthink" nennt man diesen Effekt in der Fachsprache, ein gefährlicher gruppendynamischer Prozess, bei dem sich eine Gruppe unmerklich, wie in einer Blase, abschottet, Gegenmeinungen nicht aufkommen lässt und Argumente vom Tisch gewischt werden nach dem Motto, dass nicht sein kann, was nicht sein darf. Der Einzelne der zunächst vielleicht noch Bedenken in sich trägt, stellt diese zugunsten einer angestrebten Gruppenharmonie zurück, weil er nicht als Außenseiter, Quertreiber oder Bedenkenträger gelten will. Selbst große Ereignisse, wie z.B. das Challenger-Unglück oder das Schweinebucht-Desaster, die mißglückte Invasion Kubas durch die USA, werden auf diesen Effekt zurückgeführt.
Die äußeren Umstände lassen vermuten, dass dieser Effekt auch für das Scheitern der Behörde in dem geschilderten Beispiel verantwortlich war. Für eine große Institution mit zahlreichen Fachleuten und eigener Rechtsabteilung muss die Entscheidung des Richters, begleitet von drastischen Worten, wie eine schallende Ohrfeige gewirkt haben. Der armselige Mitarbeiter, der sich den ganz persönlichen Unmut des Richters zugezogen hat, war nur stellvertretendes Symptom für das Scheitern seiner Abteilung. Eigentlich hätte er mir leid tun müssen. Hat er aber nicht!