01 Provokation, die "spanische Fliege" der Kommunikation
Unter "provozieren" (von lat. pro-vocere = hervor-rufen) habe ich im Internet die folgende Definition gefunden: "Ungewöhnliches Handeln, meist eine Regelverletzung, um andere zu einer unbedachten Reaktion zu verleiten". Viel spannender fand ich jedoch die Darstellung eines Gladiators mit der Bezeichnung "Le Provocator" und der Beschreibung seiner Kampftechnik in den "Arenes de Nimes" in Südfrankreich: "Dieser [der Gladiator] sucht mit einer Reihe von heftigen Stößen mit dem Rand seines Schildes die Defensive seines Gegners zu schwächen und Blößen in der Deckung zu entdecken, die er im Verlauf des Kampfes ausnutzen kann".
Ich erinnere mich an den Landschaftsarchitekten Prof. G. Mein Flugzeug hatte Verspätung und ich das Projektteam hatte in der Zwischenzeit begonnen, einige technische Angelegenheiten zu besprechen. Als ich eintrat, erläuterte ein neues Teammitglied, Prof. G., den ich bis dato nicht kannte, und der zum ersten Mal an der Besprechungsrunde teilnahm, sein Planungskonzept. Er unterbrach seinen Vortrag und machte mit einem durchaus freundlichen Gesichtsausdruck eine ironische Bemerkung über mein Zuspätkommen als Projektsteuerer, der ja eigentlich die Runde leiten sollte. Es folgten später noch einige kleine Frozzeleien über einige belanglose optische Details meiner Ausrüstung, auf die ich ebenso gelassen wie freundlich schmunzeln nicht groß reagierte. Im weiteren Verlauf der Besprechung sprach er mich offensichtlich in Anspielung auf meinen Familiennamen "Keck" plötzlich mit "Herr Zack" an und hakte, als ich dies ignorierte, noch einmal nach: "Sie heißen doch Zack, oder?" Spätestens durch diesen Nachsatz war mir klar, dass dies keine Verwechslung, sondern eine gezielte Stichelei war. Ich konterte mit einem "Nein, aber lassen Sie ruhig. Zack passt auch!" Die restlichen Projektmitglieder verfolgten unseren Schlagabtausch ebenso amüsiert, wie ich selbst. Mir war klar: Hier traf ich auf einen Menschen, der mir trotz seiner Sticheleien nichts Böses wollte. Seine ganze Körpersprache, seine Mimik, besonders sein offener Blick und das freundliche Grinsen, mit dem er seine Pfeile verschoss, signalisierten mir eine andere Absicht: Hinter den Sticheleien stand nur die harmlose Frage: "Wen habe ich hier vor mir? Was für ein Typ ist das? Kann ich mit dem? Spricht er meine Sprache?" Im Englischen würde man an dieser Stelle vielleicht sagen “It takes one to know one”. Jedenfalls verstanden wir uns trotz, oder richtiger vielleicht gerade wegen dieser Eröffnung während des restlichen Projektverlaufs prächtig und selbstverständlich unterschrieb ich meinen ersten offiziellen Brief an ihn nicht mit meinem richtigen Familiennamen, sondern mit "Zack".
Nicht ganz so harmlos war allerdings die folgende Szene, die auch ein kleines Vorspiel hatte. In den späten 80er Jahren lernte ich den "Großfürsten" kennen: Herr K; Ein stattlicher Mann von selbstbewusstem Auftreten, immer begleitet von seinem Hofstaat, der, so schien es, ihn eher aus Statusgründen begleitete, als dass er etwas zu sagen gehabt hätte, Self-made-man und Patriarch, seines Zeichens erfolgreicher Projektentwickler und Bauunternehmer. Es dauerte nicht lange, bis er seinen Spitznamen weg hatte. Er betrat den Raum und – dominierte. Er konnte gar nicht anders. Mein Auftraggeber: Eine ausländische Großbank mit amerikanisch geprägtem Management. Das Projekt: Ein Hochhaus in einer deutschen Großstadt. Keine Frage, dass es um Geld ging – um viel Geld. Und, Sie werden es kaum glauben, um Gefühle. Aber dazu später.
Meine erste Begegnung mit dem Großfürsten: Das Besprechungszimmer der Bank. Ich, relativ jung, alleine. Er, von gesetztem Alter, beachtlicher Statur, imposantem Auftreten und seinem “Hofstaat” in Dreiecksformation hinter sich. Ich begrüße ihn, stelle mich vor, er stellt sich vor und beginnt sofort, Lachfältchen in den Augen, mit einer kleinen Stichelei. Objekt seines Spotts: Das optische Erscheinungsbild der Architekten im Allgemeinen und das bunte Einstecktuch in der Brusttasche meines Anzugs im Besonderen. Der Hofstaat feixt. Der Großfürst gefällt mir. Ich lasse ihn gewähren, höre ihm freundlich zu und als er zu Ende ist sage ich zu ihm: "Ach wissen Sie Herr K., ich glaube, Sie sind nur neidisch", ziehe mein Einstecktuch heraus und mit den Worten “Wissen Sie was, ich schenk’s Ihnen” stopfe ich es ihm in die Tasche seines Jackets. Er schaut belustigt an sich herunter, grinst, ich grinse zurück, und von da an verstanden wir uns prächtig – obwohl er das Tuch nicht wieder herausrückte. Offenbar gefiel es ihm wirklich. Leider hatte das selbstbewusste Auftreten des Herrn K. auf der Seite meines Auftraggebers einen unangenehmen Nebeneffekt. Die mit dem Projekt befassten Direktoren der Bank, selbst eingebunden in starke, tief gegliederte Hierarchiestrukturen und eng definierten Handlungsspielräume, reagierten auf den Großfürsten mit seiner Unabhängigkeit und Souveränität mit offensichtlichen Minderwertigkeitsgefühlen und, in Folge davon, Misstrauen. Irgendwann fing eine Seite damit an, ihren Rechtsanwalt ins Spiel zu bringen und von da an ging die vorher noch halbwegs intakte Arbeitsatmosphäre fast ganz den Bach hinunter. Kaum ein Meeting, ohne dass von beiden Seiten nicht jeweils zwei bis drei Anwälte mit am Tisch saßen, die in ihrem zweifellos ehrlich gemeinten Bemühen, das Beste für ihren Klienten herauszuholen, die Stimmung dermaßen anheizten, dass die Parteien mehrfach aufgebracht die Besprechung abbrachen und das Projekt ernsthaft zu scheitern drohte.
Nachdem es im Hintergrund wieder einmal juristische Scharmützel gegeben hatte, beginnt eine der regelmäßigen Projektbesprechungen damit, dass der Großfürst – in diesem Rahmen sehr ungewöhnlich – aufsteht, schimpft, poltert, donnert und damit droht, das Projekt nunmehr abzubrechen, wenn nicht ultimativ… Vom Kopfende des Tisches kann ich beobachten, wie “meine Seite”, die dieser geballten Ladung Power nichts entgegenzusetzen zu haben glaubt, in einer Mischung aus verletztem Stolz, Hilflosigkeit und unterdrücktem Zorn tiefer in die Stühle rutscht. Nachdem er nun seine Kanone abgefeuert hat, setzt er sich und bevor der Donner verhallt, weiß ich, das Projekt steht wieder einmal auf der Kippe und ich muss etwas tun. Instinktiv und ohne wirklich zu denken nutze ich die eingetretene Schrecksekunde, um mich an den Großfürsten zu wenden: "Entschuldigen Sie, Herr K., ich hätte da mal eine Frage." – Pause. Alle schauen. Und weiter, ohne eine Miene zu verziehen: "Auf welche Schauspielschule sind Sie eigentlich gegangen?" Eisesstille. Mir fällt das Herz in die Hose. "Wenn der jetzt aufsteht und geht, hast Du es vermasselt", schießt es mir durch den Kopf. Der Großfürst schaut mich an, ich versuche, freundlich zu schmunzeln und schaue abwartend zurück. Der Großfürst zögert, schmunzelt schließlich, lacht, der Hofstaat lacht, die Herren Direktoren lachen. Er weiß, diesen Punkt hat er nicht gemacht. Die Balance ist wieder hergestellt und es geht weiter. Ich wische mir gedanklich den Angstschweiß von der Stirn und mit einem "Spaß beiseite. Ich habe da wirklich eine Frage…" geht es konstruktiv weiter.
Oft habe ich über diese Szene nachgedacht. Es hätte wirklich ins Auge gehen können. Es war hart an der Grenze zum Gesichtsverlust unseres "Großfürsten", für eine weniger robuste Natur sicher darüber. Ich denke, ohne die eingangs erwähnte Szene (und einige andere Erfahrungen zwischendurch), die mir ein Gefühl für diesen Mann, seinen sportlich-spielerischen Umgang mit der Schlagfertigkeit und nicht zuletzt seinen Humor, wäre mir das nie in den Sinn gekommen. Und was wären die Alternativen gewesen? Der Versuch, nur sachlich darauf zu reagieren, hätte unter dem Eindruck der gewaltigen Theatralik der Szene unweigerlich in die Defensive geführt und der Versuch, mit gleichen Mitteln zurückzuschlagen in die Eskalation. Nur der Überraschungseffekt konnte so schnell wieder Waffengleichheit herstellen, und ich gebe zu, auch ich war (nachdem der Angstschweiß getrocknet war) selbst überrascht. Manchmal ist es eben gut, keine Zeit zum Nachdenken zu haben und seinen Instinkten zu vertrauen.
Wat lernt uns das?
Ja, es gibt eine konstruktive Variante der Provokation. Provokation hat immer etwas aggressives, muss aber deswegen nicht per se unangebracht sein. Provokation funktioniert in einem gewissen Rahmen als äußerst schnelles und effizientes Kommunikationsmittel. Sie unterscheidet sich von der negativen Abart durch eine gewisse Sportlichkeit, eine Prise Humor und die Bereitschaft zur Selbstironie. Nicht nur austeilen, sondern auch einstecken können. Die Lust am Schlagabtausch. *)
Wie aber funktioniert nun Kommunikation durch Provokation?
Provokation ist Angriff und weckt den Verteidigungsinstinkt. Sie richtet sich an das Gefühl, an das Unterbewusste und lockt aus der Reserve. Das Ergebnis ist meist eine schnelle, unbedachte Reaktion, die damit die "wahre" Natur des Gegenübers zeigt, weitestgehend unverfälscht durch die eingeschränkte Kontrolle des Verstandes. Möglicherweise ist Ihr "Gegner" aber auch im buchstäblichen Sinn sprachlos – entwaffnet durch den Überraschungseffekt. Aber Vorsicht! Die Provokation ist sozusagen die Spanische Fliege der Kommunikation: In mäßiger Dosierung potent, in zu starker Dosis tödlich!
Während ich als Provocateur, als "Täter" sozusagen auf die richtige Dosierung achten muss, um mein Ziel zu erreichen und nicht nur sinnlos zu brüskieren und damit das Ende einer konstruktiven Kommunikation zu riskieren, ist von Seiten des "Opfers" eine andere Qualität gefragt. Mit einer gewissen Gelassenheit und einer Portion Souveränität kann man den Versuch einer Provokation durchaus an sich abgleiten lassen. Man muss sich ja schließlich nicht auf jede Leimrute setzen, die einer einem hinhält. Aus verschiedenen Gründen mag es aber auch angebracht sein, darauf einzugehen, sie als Einladung zum Kennenlernen betrachten und im Zweifelsfall durchaus auch schlagfertig mit gleichen Mitteln zurückschlagen. Dies zeigt dem Gegenüber auch, dass man auf gleicher Augenhöhe pariert, sich nicht einschüchtern lässt, nicht mehr preis gibt als man ohnedies tun würde und sich nicht pikiert in mimosenhafter Empfindlichkeit präsentiert.
Jede Provokation ist eine kalkulierte Grenzüberschreitung. Um erfolgreich zu sein verlangt sie Respekt vor dem Gegenüber und damit auch eine sichere Einschätzung der Persönlichkeit und seines sozio-kulturellen Umfeldes. Jede Gesellschaft hat ihre Tabus, jeder Mensch seine ihm eigene Toleranzschwelle. Provokation in diesem Kontext darf nicht verletzen oder niedermachen. Im Zweifelsfall bedarf es auch der Bereitschaft zurückzurudern. Sollten Sie feststellen, dass Sie im Eifer des Gefechts oder durch Fehleinschätzung Ihres Gegenübers die Grenze des Respekts unbeabsichtigt überschritten haben, sollten Sie den Mut zu einer ehrlichen Entschuldigung haben. Provokation ist eben auch eine scharfe Waffe, mit der man sich und andere verletzen kann. Gepaart mit Humor ist diese Waffe nicht weniger scharf (wer kann schon angreifen, wenn er lachen muss), verliert aber ihren verletzenden Charakter, mutiert sozusagen zum Sportinstrument. Ausschließlich die Frage, wie dieses Instrument eingesetzt wird, bestimmt, ob es verwerflich oder akzeptabel, die Gesprächsatmosphäre vergiftet oder erfolgreich ist.
*) Wenn Sie das üben wollen, habe ich einen Tip für Sie: Besuchen Sie eine kölsche Brauereikneipe und bestellen Sie beim Köbes (ugs. Kellner) ein Alt (oder umgekehrt in Düsseldorf ein Kölsch). Und dann versuchen Sie mal sprachlich wieder Oberwasser zu gewinnen. Wenn Sie das durchstehen, sind Sie fit für jeden Großfürsten. Aber seien Sie nicht zu empfindlich! Gönnen Sie ihrem Partner einen Punkt. Freuen Sie sich über seinen Treffer. Ärgern blockiert die Schlagfertigkeit.