41 Erfolg durch Chaos
Oder vielleicht "Erfolg trotz Chaos"? Das Projekt, ein gewerblicher Umbau, ist überschaubar, der Bauherr umso weniger. Beim ersten Treffen erzählt er mir, dass früher ein naher Verwandter die Planung für verschiedene Projekte für kleines Geld übernommen hätte. Allerdings sei dieser jetzt zwischen 70 und 80 Jahre alt und könne die anstehende Aufgabe wohl nicht mehr übernehmen. Als erstes bräuchte er ganz schnell eine Grundrissskizze und eine Perspektive für die Diskussion mit potentiellen gewerblichen Mietern. Mit dem Ergebnis des Teams aus Architekt und Grafiker ist er sehr zufrieden, hält aber das Honorar für viel zu hoch, weil der Architekt "doch nur ein paar Trennwände in einen alten Bestandsplan eingezeichnet hätte" und kann gar nicht verstehen, warum er den Grafiker, trotz klarer Beauftragung, extra bezahlen soll. Das hätte früher sein Verwandter viel günstiger erledigt. Ende der Zusammenarbeit.
Die Mietverträge handelt er alleine aus; das Angebot ihn in technischen Belangen zu unterstützen nimmt er nicht wahr. Entsprechend unpräzise sind die Mieterbaubeschreibungen. Der vereinbarte Übergabetermin ist auch nicht mit mir abgestimmt und unter Berücksichtigung der erforderlichen Arbeitsschritte mit Planung, Baugenehmigung, Ausschreibung und Ausführung etc. nicht realistisch.
Der mit seiner Bank besprochene Finanzierungsrahmen ist viel zu niedrig. Dies bereitet ihm offenbar große Kopfschmerzen, aber er lässt sich nicht davon abbringen, dass das Projekt im Rahmen seiner Wunschvorstellungen doch realisierbar sein müsste. Sein Verwandter damals…
Er lädt mich zu einem Termin ein mit einem neuen Architekten, der ihm von einem Freund aus den Kindertagen empfohlen wurde. Dieser reagiert zuerst überrascht, als der Bauherr in Begleitung eines Projektsteuerer erscheint, macht von Beginn an einen säuerlichen Eindruck und wird während der Besprechung zunehmend aggressiver. Den Zieltermin des Projekts hält er für nicht realisierbar, womit er vermutlich recht hat, und zu den voraussichtlichen Kosten will er sich nicht äußern. Der Bauherr fährt in Urlaub und bittet mich, trotz meiner Bedenken, die Vertragsverhandlung mit dem Architekten alleine zu führen. Der Termin kommt zustande. Ich spreche die Atmosphäre der ersten Besprechung an, biete dem Architekten die Hand für eine kollegiale Zusammenarbeit und ernte nur Unverständnis. Als wir uns über Leistungen und Honorar unterhalten, kippt plötzlich die Stimmung vollends. Der Architekt lehnt den Auftrag ab, endgültig und unwiderruflich.
Der Bauherr bittet mich, einen Architekten Nr. 3 für ihn zu finden. Mein Vorschlag kommt an. Ebenso meine Empfehlung eines Haustechnikplaners. Und wieder die gleiche Meinung: Termin nicht realisierbar, Budget bei weitem nicht ausreichend. Der Bauherr ist von einem ersten Beratungstermin auf der künftigen Baustelle beeindruckt von der fachlichen Beratung des TGA-Planers, wirft ihn jedoch gleich wieder raus - zu teuer. Die Aufgabe soll, wie bereits früher, eine Lieferfirma für Lüftungsanlagen übernehmen. Der Architekt darf bleiben. Zu hoch das Risiko mit einem erneuten Wechsel. Zwischendurch muss ich ihm dringend davon abraten, das Honorar des Architekten trotz klarer Vertragsvereinbarungen zu kürzen. Das Argument: Architekt Nr. 1 hätte ja bereits Vorarbeiten geleistet - ein paar Trennwandstriche in einem PDF-Bestandsplan zur Diskussion mit Mietinteressenten.
Das Projekt läuft genau so weiter wie bisher. Der Bauherr erweist sich als recht "beratungsresistent" und trifft weiterhin einsame Entscheidungen. In der Zusammenarbeit zwischen Architekt und der mit Planung beauftragten Lüftungstechnikfirma knirscht es gewaltig. Planungsleistungen kommen nicht, eine Koordination ist praktisch nicht möglich, Vorschläge zur TGA sind technisch nicht plausibel und unvollständig. Der Bauherr stimmt zähneknirschend dem Einsatz eines freiberuflichen "Beraters" zur Überprüfung und Korrektur der Vorschläge der Lüftungsfirma zu. Eine Ausschreibung findet nicht statt, die Aufträge werden freihändig an Handwerker und Firmen vergeben, die zum größten Teil aus dem persönlichen Umfeld des Bauherrn kommen. Die Angebotspreise sind aufgrund fehlender Vergleichsangebote zum großen Teil nicht marktgerecht, aber aufgrund der persönlichen Beziehung des Bauherrn, der zudem fast täglich auf der Baustelle erscheint und seine Anweisungen gibt, wenigstens ungefähr im Rahmen der notwendigen Termine. Die Baugenehmigung ist sehr schnell gekommen, die zuständige Gemeinde sehr motiviert, weil sie froh ist, einen seit langem leer stehenden Schandfleck los zu werden - wenigstens ein Lichtblick.
Der Architekt ist dennoch nicht zu beneiden. Die Informationen laufen weder bei ihm noch beim Bauherrn noch beim Projektsteuerer zusammen, der sich, um Kosten zu sparen, nur noch um die Betreuung der Mieter kümmern darf - aber bitte nur vom Büro aus; Ortstermine auf der Baustelle? Zu teuer. Die Bauleitung besteht im Wesentlichen aus Improvisieren, Zusammenklauben von Informationen aus verschiedenen Quellen, gelegentlichen Warnungen an den Bauherrn, Lücken-füllen, wo der Bauherr an seine Grenzen stößt und Disziplinierungsversuchen an Handwerkern, die sich aufgrund ihrer persönlichen Beziehung zum Bauherrn nicht gerne etwas sagen lassen.
Und das Ende vom Lied?
Budget weit überzogen, aber das interessiert die gewerblichen Mieter nicht. Für diese ist der Übergabetermin zur Einhaltung des geplanten Eröffnungstermins ihrer Ladengeschäfte wichtig. Mit der relativ geringen Terminüberschreitung können sie leben. Aus deren Sicht also, was die bauliche Seite betrifft, ein erfolgreiches Projekt.
Wat lernt uns das?
So unbefriedigend dieses Projekt aus professioneller Sicht sein mag: Der Erfolg gibt dem Bauherrn am Ende recht. Aus professioneller Sicht wäre es erst ein Erfolg, wenn sich Qualität, Kosten und Termine am Ende im Rahmen eines vorgegebenen Ziels bewegen und das Projekt unter kontrollierten Rahmenbedingungen abläuft. Optimal, wenn das Projekt darüber hinaus ohne Rechtsstreitigkeiten abgewickelt wurde und die Beteiligten auch nach Abschluss des Projekts “noch ein Bier miteinander trinken” können.
Hier liegt der Fall etwas anders: Von einem kontrollierten Projektablauf im Sinne eines Regelkreises Planung-Überwachung-Steuerung kann nicht die Rede sein. Es gab eine Zielvorstellung, die hinsichtlich des Programms recht konkret war: Mieträume für mehrere gewerbliche Mieter mit einer ansprechenden Fassade herzustellen. Termin- und Kostenziele des Bauherrn waren, gemessen an den qualitativen Zielen von vorn herein unrealistisch. Verschiedene Kompromisse und etwas Glück haben es jedoch ermöglicht, dass der Bauherr zumindest zwei Hauptziele erreicht hat: Eine für die Mieter akzeptable Qualität zu einem akzeptablen Zeitpunkt zur Verfügung zu stellen, auch wenn es bereits hier kleinere Kompromisse gab.
Die ursprünglichen Vorstellungen zur Fassade mussten aus Kostengründen deutlich "abgespeckt" werden, wobei die Mieter keine größeren Schwierigkeiten machten. Auch eine relativ geringe Terminverlängerung wurde von Seiten der Mieter hingenommen, z.T. erkauft durch die Bereitschaft, den Mieterausbau in der Endphase noch vor der offiziellen Übergabe parallel zu den noch stattfindenden Ausbauarbeiten des Bauherrn zuzulassen, auch wenn dies zu einigen Koordinationsproblemen und Auseinandersetzungen über die Verantwortung hinsichtlich einiger Beschädigungen führte. Hier machten sich vor allem auch die ständige Information der Mieter über den Fortgang des Projektes und die Gründe für Veränderungen und der enge Kontakt mit den Verantwortlichen auf Mieterseite positiv bemerkbar, die dem Bauherrn im Interesse der gemeinsamen Ziele keine Steine in den Weg legten. Als glücklicher Umstand kam - keineswegs selbstverständlich - die sehr schnelle Erteilung der Baugenehmigung hinzu. Der "große" Kompromiss bestand schließlich darin, erhebliche Mehrkosten gegenüber dem ursprünglichen Budget zu akzeptieren. Die Notwendigkeit, das Projektbudget auf der Basis einer technischen Voruntersuchung (Technical Due Diligence) zu entwickeln, wurde hier sträflich vernachlässigt. Die Chancen zu Einsparungen durch kostenregulierende, wettbewerbsorientierte Vergabeverfahren fiel der absoluten Terminpriorität zur Einhaltung vertraglicher Verpflichtungen zum Opfer und führte mit Sicherheit zu weiteren Mehrkosten. Nur durch die Flucht nach vorn konnte der Projekt-GAU, der Vertragsrücktritt eines oder mehrerer Mieter vermieden werden. Diesem Hauptziel fiel aber auch ein geregelter Projektablauf zum Opfer. Kein Wunder, dass der durch ständiges Improvisieren gestresste Architekt sein Honorar als "Schmerzensgeld" bezeichnete.