14 Hoppla - Hi Arthur!
Hoppla hier komm ich - wo stehen die Fettnäpfchen? (4)
Gewöhnungsbedürftig ist für uns Deutsche häufig auch die angelsächsische und in skandinavischen Länder weit verbreitete Gewohnheit, sich über die Grenzen der Hierarchie hinweg mit dem Vornamen anzureden. Während für uns der Gebrauch des Vornamens meist auch eine gewisse persönliche Vertrautheit, Sympathie, Freundschaft voraussetzt, bedarf es in jenen Ländern nicht dieser "strengen" Maßstäbe, um den Kollegen oder Geschäftspartner mit Bill, Caroline oder Oliver anzusprechen. Auch Abkürzungen wir z.B. "Trish" für "Patricia" oder ähnliches sind weit verbreitet und stoßen keineswegs auf Ablehnung oder Irritation bei dem so Genannten.
Aber Vorsicht! Der Gebrauch des Vornamens signalisiert keineswegs ein fortgeschrittenes Maß an Freundschaft oder Vertrauen, dies genauso wenig wie ein Verwischen der Hierarchiestufen. Es hat diesbezüglich keinerlei Bedeutung und der Firmenchef oder unmittelbare Vorgesetzte, der Vertreter eines Auftraggebers oder auch der Untergebene erwartet im allgemeinen Verhalten den ihm gebührenden Respekt und die übliche Distanz, auch wenn er sich - für uns jovial und freundschaftlich klingend - beim Vornamen nennen lässt.
Arthur "Boss"
Und noch einmal Vorsicht! Es gibt Ausnahmen. Bei einem meiner Antrittsbesuche für eine Aufgabe im Ausland traf ich auf den Projektleiter, einen älteren, weißhaarigen Herrn aus den USA, nennen wir ihn "Arthur Boss". Irgendwann im Verlauf des Gesprächs meinte er, ob es mir etwas ausmachen würde, wenn er mich beim Vornamen nennen würde. Der Verlauf des Gesprächs und die Art und Weise, wie diese Frage gestellt wurde hatten mich aufmerksam werden lassen und spontan antwortete ich: "Nein, solange es auf Gegenseitigkeit beruht…" Von da an waren wir "Arthur" und "Lothar". Erst später merkte ich, dass ich intuitiv einer kleinen Falle ausgewichen war. Er wollte mich "Lothar" nennen, erwartete aber von mir mit "Mr. Boss" angesprochen zu werden. Dies war irgendwie bereits kennzeichnend für seinen gesamten Führungsstil, mit dem auch ein Teil des restlichen Teams seine Probleme hatte. Meine spontane Reaktion ermöglichte es mir jedoch, menschlich mit ihm auf gleicher Augenhöhe zu reden, während ich mich bemühte, ihm gleichzeitig den seiner Position angemessenen Respekt entgegen zu bringen.
Bijit Ghosh
Dass dieses Thema nicht immer so bierernst zu nehmen ist zeigt eine Erfahrung aus Indien, wo man traditionell z.T. recht freizügig mit Namen, Namensänderungen, Spitznamen etc. umgeht. Der von mir sehr geschätzte Prof. Bijit Ghosh (den ich aus diesem Grund ausnahmsweise bei seinem richtigen Namen nennen möchte), bekam meinen Vor- und Familiennamen einfach nicht auf die Reihe. Zu fremd müssen möglicherweise diese Laute für ihn geklungen haben. Mit schöner Regelmäßigkeit klopfte er mir im vertraulichen Gespräch auf die Schulter und eröffnete seinen Satz mit "Listen, Keck!" ("Hör mal, Keck!"), während er mich bei formellen Anlässen meist vorstellte als "This is Mr. Lothar" ("Das ist Herr Lothar"). Zu Beginn versuchte ich noch, dies noch zu korrigieren. Später ließ ich es einfach dabei und schmunzelte nur noch.
Modefirma
Und noch ein Beispiel: In einem internationalen Konzern in Deutschland waren alle, vom Portier bis zum obersten Chef, per Du - auch mit den externen Beratern, Architekten und Ingenieuren. Im Laufe der Zeit hatte sich jedoch eine ungesunde "Fraternisierung" eingestellt, die sich darin zeigte, dass die Rollenverteilung unklar geworden war und sich Frust bei den Konzernmitarbeitern bildete, die glaubten, Ihre durchaus berechtigten Forderungen nicht immer mit dem angemessenen Nachdruck vertreten zu können, während auf der anderen Seite die Leistungsbereitschaft und Kundenorientierung der externen Dienstleister nachgelassen hatte. Als ich mit der Projektsteuerung des ersten Projekts beauftragt wurde, blieb ich sowohl mit meinen Kundenvertretern als auch mit externen Kollegen bewusst bei der Anrede "Sie". Während nie irgendjemand Anstoß daran nahm, hatte ich das Gefühl, dass die positiven Seiten überwogen und ich mich in der Projektarbeit problemlos durchsetzen konnte. Auch der Kunde schien damit kein Problem zu haben, da dem ersten Projekt ein gutes Dutzend weiterer folgten.
Wat lernt uns das?
Der Gebrauch der Anrede, wie ich mich anreden lasse oder andere anrede, kann eine sehr subtile Wirkung haben. In einer von internatioaler Zusammenarbeit geprägten Arbeitsumgebung insbesondere im amerikanisch / angelsächsich beeinflussten Umfeld oder in bestimmten Branchen ist der Gebrauch des Vornamens ohne Ansehen der Position weit verbreitet. Unter diesen Umständen wird man leichter akzeptiert, wenn man sich der allgemeinen unkomplizierten Regelung schnell anschließt und sich mit Vornamen vorstellt und anreden lässt. Meist kostet es uns anfangs etwas Überwindung, insbesondere einen sehr viel älteren Kollegen, den Firmenchef oder einen Auftraggeber mit seinem Vornamen anzureden. Aber ich versichere Ihnen: Man gewöhnt sich dran.
Es kann andererseits jedoch auch als recht deutliches Signal verstanden werden, wenn man sich durchaus bewußt davon abgrenzt und den Nachnamen benutzt, wie es eben bei uns noch weitgehend üblich ist. Das muss nicht per se falsch sein, ganz im Gegenteil. Sie sollten sich nur bewußt sein, was dies im Team, beim Kunden oder in der Zusammenarbeit mit anderen auslöst. Die dadurch erzeugte Distanz kann, falls beabsichtigt, durchaus dabei helfen, Unabhängigkeit und Integrität zu demonstrieren und durchzusetzen.
Nachtrag 1
Heute habe ich einen netten Begriff für das Spielchen kennen gelernt, das "Arthur Boss" (s.o.) mit mir spielen wollte. Ein Ingenieurkollege nannte es "das domestizierende Du". Ich hätte es nicht treffender nennen können! (Danke, Herr H.)
Nachtrag 2
Über 30 Jahre nachdem ich das freundliche Verhältnis mit Prof. Ghosh genießen durfte, klingelte das Telefon. Ein Anruf aus Norwegen. Ein Anruf aus Norwegen? Ich kenne da keinen! Nach ein paar kurzen Fragen hin und her, Klarheit: Die Tochter von Prof. Ghosh hatte, in Norwegen lebend, interessehalber einmal den Namen ihres Vaters gegoogelt und war auf meine kleine Geschichte gestoßen. Zufälligerweise spricht sie auch Deutsch und konnte daher den Artikel ohne Probleme lesen. Ich habe mich sehr darüber gefreut und wir haben später anderthalb Stunden über Skype telefoniert, während sie in der Zwischenzeit irgendwo in Kashmir an ihrem Laptop saß.