30 Kopf oder Bauch?
Vor vielen Jahren nahm ich zum ersten Mal an einem Taketina-Workshop teil. "Was ist denn das schon wieder?" höre ich Sie förmlich schnauben. Wenn ich jetzt antworte, Taketina habe etwas zu tun mit "polyrhythmischer Bodypercussion", hören Sie vermutlich auf zu lesen. Also: Stellen Sie sich einen Kreis von Menschen vor, in der Mitte einer mit einer großen Trommel, der ein kontinuierliches Metrum bietet, und ein zweiter, der die Gruppe anleitet. Zunächst wird ein bestimmter Rhythmus mit den Füßen und einer einfachen Schrittfolge markiert. Ein zweiter Rhythmus kommt durch eine Art Sprechgesang hinzu und zum Schluss wird ein dritter Rhythmus mit den Händen geklatscht. Die drei Rhythmen sind ganz unterschiedlich. So könnten sich die Füße in einem Dreiertakt bewegen, die Stimme bewegt sich im Viererrhythmus und die Hände klatschen dazu einen Siebener. Im fortgeschrittenen Stadium wird das ganze noch durch vielfältige Variationen des Sprechgesangs variiert. Und das Ergebnis ist, Sie erraten es bestimmt, ein heilloses Durcheinander - manchmal. Na ja, um ehrlich zu sein: oft - aber nicht immer!. Überforderung der grauen Zellen ist normal und die Konsequenz ist ein ständiges "Rausfallen" und "Reinkommen". Das Ganze ist einfach zu komplex für den normalen Verstand - wenn es da nicht noch eine andere Bewusstseinsebene gäbe, die ich bis dahin einfach nicht kannte und die mir dadurch nicht zugänglich war.
Als ich mich dieser Erfahrung zum ersten Mal ausgesetzt habe, kam ich irgendwann an einen Punkt, der mir neu war. Ich spürte, dass irgendetwas anderes die Kontrolle übernehmen konnte und wollte. Dieses Irgendetwas war mir unbekannt und nicht ganz geheuer. Nach kurzem Zögern lies ich einfach zu, was sich da anbahnte und siehe da: Plötzlich ging alles ganz leicht. Ich musste mich nicht anstrengen, nicht krampfhaft konzentrieren. Füße, Stimme, Hände liefen wie von alleine und selbst die einsetzenden Variationen und Verwirrspielchen des "Capo" brachten mich nicht aus dem Konzept. Das Geheimnis hieß "Loslassen", einfach nur loslassen, ganz das Gegenteil von “sich bemühen” und "sich nochmehr konzentrieren". Fest verankert in einem technischen Beruf und in der Welt des Verstands erlitt mein Glauben an die Kraft der Ratio hier einen Bruch, oder vielleicht sollte ich besser sagen "…erfuhr eine Erweiterung". In darauffolgenden Jahren erlebte ich diesen Zustand immer wieder, manchmal äußerst intensiv und immer entspannend.
An dieser Stelle werden Sie sich vielleicht fragen, "Was hat denn das alles hier in diesem Blog zu suchen?".
Im Laufe der Zeit habe ich festgestellt, dass ich manchmal unmerklich z.B. während schwieriger Verhandlungen oder Besprechungen in einen ähnlichen Zustand komme: Ich bin höchst konzentriert, verliere das Gefühl für alles Drumherum, die Zeit, den leeren Magen und bin voll fokussiert auf meine Gesprächspartner und das Ziel. Dennoch fühle ich mich dabei selbst in schwierigeren Situationen völlig entspannt, kann verbale Attacken emotional einfach ausblenden und fühle genau, was in meinem Gesprächspartner gerade vorgeht. Das macht es mir leicht zu argumentieren, weil ich quasi gleichzeitig zwei Seelen in meiner Brust vereinige, seine und meine, Schizophrenie auf höherer Ebene. Diesen Zustand bemerke ich oft erst im Nachhinein. Wenn ich aus einer solchen Besprechung komme, fällt dieser Zustand, ich kann es körperlich spüren, wie eine Hülle von mir ab. Plötzlich habe ich Hunger, Durst, weiß wie spät es ist und stehe mit beiden Beinen wieder auf der Erde. Meistens kann ich dann mit dem Ergebnis der Besprechung oder Verhandlung sehr zufrieden sein. Zumindest bin ich anschließend überzeugt, das Beste daraus gemacht zu haben.
Wat lernt uns das?
Ich weiß nicht, ob der Begriff Trance oder Flow in diesem Zusammenhang im psychologischen Sinn angemessen ist. Ich empfinde diesen Zustand eben als eine Art Trance. Ich bin einfach im Fluss. Ich weiß auch nicht, ob diese Erfahrung übertragbar ist, und ob sie Ihnen nutzen wird. Zumindest haben diese Erfahrungen bei mir dazu beigetragen, dass ich der Intuition in meinem Berufsleben wesentlich mehr Raum einräume, als ich das ursprünglich zugelassen hätte. Anstelle des Versuchs, eine Situation kontrollieren zu wollen, stelle ich mich auf ein ständiges Aufnehmen und Reagieren ein. Die eigenen Ziele stelle ich dabei zunächst eher zurück und achte mehr darauf, was von außen auf mich einwirkt. Dies hilft mir, ein Gefühl für mein Gegenüber zu entwickeln und auf die Motivation, die sich hinter den vorgebrachten Argumenten verbirgt. Dies zu verstehen und darauf einzugehen ist i.d.R. wesentlich wirkungsvoller, als sich auf die eigenen Ziele zu versteifen oder auf vordergründige Positionen einzugehen.
Vielleicht bin ich gar nicht der Kopfmensch, für den ich mich immer gehalten habe. Für mich ist die Frage "Kopf oder Bauch?" jedenfalls keine Frage mehr. Die Antwort kann nur lauten: "Kopf UND Bauch!"
Nachtrag
Ich bin nach Veröffentlichung dieses Blogs gefragt worden “Wie machst Du das?". Ich muss zugeben, dass ich darauf keine wirkliche Antwort weiß. Ich habe dafür kein Rezept. Es gibt weder "mentale Techniken" noch stehe ich vorher 10 Minuten auf dem Kopf. Wenn es denn passiert, geschieht es von ganz alleine. In der Regel bin ich jedoch vorher sehr gelassen, betrachte die vor mir liegende, manchmal schwierige Situationen mehr als Aufgabe denn als Stressfaktor, bin mehr auf Zuhören und Aufnehmen als auf eigene Absichten oder Handlungen fixiert und versuche intensiv, mich in die Situation meiner Gesprächspartner einzufühlen. Sonst nichts!