35 Das Gehirn schläft nicht
Vor kurzem habe ich mich bis in den späten Abend hinein mit einer Freundin über einige Themen unterhalten, die sich um meine Seminartätigkeit drehten. Am frühen Morgen, es war noch dunkel, wachte ich auf mit einer Fülle von intensiven und ganz konkreten Gedanken zur Ergänzung und Verbesserung bestehender Seminare und Ideen zu neuen Themen. In der Angst, dass dieses “Geschenk” wieder in Vergessenheit geraten könnte, wenn ich meinem Schlafbedürfnis noch einmal nachgeben würde, stand ich auf, wankte noch im Halbschlaf zu meinem Schreibtisch, machte mir schnell ein paar Notizen und ließ mich wieder für eine weitere Stunde ins Bett fallen. Beim zweiten Aufwachen das Gleiche, noch mehr Gedanken, weitere Ideen. Klasse, dachte ich, so müsste das immer sein!
Später erinnerte ich mich an eine Episode aus meiner Studentenzeit. Wir hatten die Aufgabe bekommen, eine Schaukel aus Holz zu konstruieren ohne metallische Teile. Keine Schrauben, dynamische Beanspruchung… Den ganzen Abend saß ich vor meinem Skizzierpapier, aber es wollte mir nichts rechtes einfallen - zumindest war ich mit dem, was mir in den Sinn kam, unzufrieden. Irgendwann ging ich ins Bett nur um dann mitten in der Nacht aufzuwachen. Ich hatte geträumt. Ich hatte die Lösung geträumt. Ganz deutlich, räumlich, dreidimensional, greifbar: Zwei ineinander verschränkte Dreiecke, die mich irgendwie an den Unterbau eines Wigwams erinnerten. Ein Querbalken drüber, fertig. Auch damals die Angst, diesen flüchtigen Gedanken wieder zu verlieren. Also raus aus dem Bett, ein paar Striche aufs Papier und weiter schnarchen. Am nächsten Morgen war zunächst alles weg - fast alles. Als mein Blick auf den Fetzen neben meinem Bett fiel, erinnerte ich mich an mein nächtliches Aufwachen und die Lösungsidee. Das war es denn auch. Wir haben das Teil dann sogar gebaut und im Hof der Architekturfakultät aufgestellt. Es gab keine Toten.
Wat lernt uns das?
Der bewusste Teil unseres Gehirns stellt nur einen Bruchteil der gesamten Verarbeitungskapazität unseres Denkorgans dar. Die Tatsache, dass uns der andere Teil per definitionem unbekannt ist, heißt nicht, dass er nicht existiert und bei unseren Entscheidungen mitarbeitet - auch wenn er häufig unterschätzt wird. Und er scheint auch zu arbeiten, wenn wir uns im Ruhezustand, im Schlaf befinden. Nein, er scheint nicht nur zu arbeiten, er tut es! Wir wachen auf, wenn nachts die Heizung knackt, wir träumen von Dingen, die tagsüber passiert sind, und wir wachen um 05:55h auf, wenn wir den Wecker ausnahmsweise mal auf 06:00h gestellt haben, obwohl wir sonst immer bis 08:00h schlafen, wie es mir immer wieder passiert. Oder ist es Ihnen noch nie passiert, dass Ihnen die Antwort auf eine wichtige Frage trotz intensiven Nachdenkens nicht einfällt? Und dann, wenn Sie sich mit etwas ganz anderem beschäftigen, wenn Sie überhaupt nicht mehr daran denken - Sie glauben das wenigstens - macht es plötzlich blupp, und die Antwort ist da, ganz ohne Anstrengung.
Das Gehirn schläft nicht, und ich versuche die Ressource des Unbewussten bewusst stärker zu nutzen. Was wie ein Widerspruch in sich klingt, ist eine ganz reale Erkenntnis der Hirnforschung: Auch das Unterbewusste denkt mit - heimlich sozusagen. Wie ich das anstelle und welche Konsequenzen dies auf meine Arbeitsmethodik hat, werde ich in einem meiner nächsten Blogbeiträge erläutern.
Derzeit arbeite ich dran, dass das Gehirn mir morgens noch den Kaffee kocht, bevor ich aufstehe. Mal sehen…