24 Schau mir in die Augen, Kleiner!
Ich fass’ es nicht! Da arbeite ich mit einem guten Fachmann, nennen wir ihn Herrn Ypsilon, zusammen, den ich gerne einem meiner Kunden für ein neues Projekt nahe bringen möchte. Ypsilon arbeitet ein hervorragendes Konzept aus, beachtet alle Hinweise auf sinnvolle Ergänzungen in seiner Präsentation, kennt die Schwerpunkte, auf die der Kunde sein Augenmerk richten wird und bekommt sogar ein Briefing über die involvierten Personen und eventuelle Fettnäpfchen. Er hat tausend Dinge beachtet, an die ich nicht gedacht hätte, hat neue Ideen über weitergehende Entwicklungen eingebracht und mir in der Vorpräsentation alles sehr überzeugend vorgestellt. Und nun sitzen Sie am gleichen Tisch, der Kunde und meine "Geheimwaffe". Bei der Begrüßung habe ich darauf geachtet, dass sich beide in einer günstigen Position gegenüber sitzen, so dass der Kontakt erleichtert wird und beide gemeinsam auf die vorgelegten Unterlagen schauen können. Der Kunde erhält ein Planset, das er vor sich liegen hat. Ihm gegenüber Ypsilon, der sich nun sein eigenes Exemplar zurechtlegt. In einer Ahnung, was nun gleich passieren wird, versuche ich diplomatisch, ihn zu veranlassen seine Unterlagen zur Seite zu legen und sich zusammen mit dem Kunden über ein gemeinsames Exemplar zu beugen. Die Unterlagen sind sehr klar und gut überschaubar und könnten gut über Kopf erläutert werden.
Aber nein! Ypsilon hält fest, beugt sich über "sein" Exemplar, fährt mit seinem Finger über “seine” Dokumente und redet mehr mit sich und seinem Plan als mit dem potentiellen Auftraggeber. Ich beobachte, wie sich der Kunde müht, die Erklärungen in seinem eigenen Präsentationsexemplar nachzuvollziehen. Ständig wechselt sein Blick zwischen den beiden Dokumenten. Er muss nun seinerseits die Pläne über Kopf verfolgen, dem Finger Ypsilons folgen und sucht nun die entsprechende Stelle in seinem Exemplar. Manchmal erfährt das nahezu autistische Selbstgespräch eine Unterbrechung. Dann gibt es einen Blickkontakt. Aber: Während Ypsilon dem Kunden etwas erläutert, schaut er dabei penetrant mich an. Es berührt mich etwas peinlich und ich versuche, ihn durch gelegentliches Wegschauen oder indem ich meinerseits den Kunden anschaue und die ein oder andere Frage an diesen richte, zu einem Blickwechsel zu bewegen. Aber nur kurzzeitig richtet sich der Fokus auf die "richtige" Person.
Kein Wunder, dass sich der Kunde nach der Präsentation unter vier Augen durchaus positiv über das vorgestellte Konzept äußert aber dennoch sagt: "Das war ja ganz nett, aber haben Sie nicht noch einen anderen?". So richtig warm sind sich die beiden trotz der unbestritten guten fachlichen Leistung ganz offensichtlich nicht geworden. Kein Wunder auch.
Wat lernt uns das?
In der Position in der ich mich befand, konnte ich nicht mehr tun. Ich hatte den Kontakt hergestellt, mein Wissen über das Thema weitergegeben und die Vorbereitungen begleitet. Was dann folgte, war nicht meine Show sondern seine Chance. Als derjenige, der ein neues Projekt und seine Ideen hierzu vorstellt, wäre es an ihm gelegen, seinen Zuhörer durch die Präsentation zu führen, ihm das Verständnis zu erleichtern, auf seine Reaktionen zu achten und auf ihn einzugehen.
Vertrauen in die Leistungsfähigkeit und Zuverlässigkeit des Gegenübers ist nicht nur eine Frage der fachlichen Kompetenz, sondern auch der Fähigkeit eine persönliche Verbindung herzustellen. Erst durch den Aufbau einer zwischenmenschlichen Beziehung gelingt es, wirklich zu überzeugen und die fachliche Kompetenz zu verankern und zu stabilisieren. Auch in ausgesprochen technischen Bereichen ist das Vertrauen eines Auftraggebers oder anderer Beteiligter nicht nur eine Angelegenheit der Logik und des Verstands, sondern zum großen Teil auch eine Frage des “Bauchgefühls”, der Emotionen, des Vertrauens. So sehr sie bei einer Verhandlung oder einer Präsentation im Hintergrund zu stehen scheinen, so sehr können sie gleichzeitig ausschlaggebender Faktor für oder gegen eine Entscheidung sein. Mit einer - oft unbewussten - Entscheidung für oder gegen eine Person ist dann oft auch die Entscheidung für oder gegen eine technische Lösung, ein Angebot oder einen Vorschlag verbunden. Hinter allen technischen Entscheidungen stecken eben immer noch Menschen.
PS Das Projekt hat nun ein Mitbewerber bekommen, dessen technische Lösung weit weniger raffiniert ist, der jedoch den Auftraggeber durch seine gewinnende (!) Art und seine kommunikativen Fähigkeiten, seine Lockerheit und seinen Humor überzeugt und sein Vertrauen gewonnen hat.