'Tit for tat' (engl., etwa: Wie Du mir, so ich Dir)
Miss Mukherjee, Mitte 20, indische Studentin aus dem Bundesstaat Bengalen, trägt immer ihren traditionellen Sari und wirkt mit ihren langen, zu einem dicken Zopf geflochtenen Haaren fast wie das Klischee einer konservativen indischen Frau. Hinter diesem Erscheinungsbild tritt jedoch eine intelligente, eloquente und selbstbewusste junge Frau in Erscheinung, der man, wie sich zeigt, nicht so leicht die Butter vom Brot nimmt.
Heute hat sie an ihrem College in Delhi einen Termin mit Bill Smith, einem jungen Gastdozenten aus den USA, vermutlich aus dem Teil, den man früher einmal den "Wilden Westen" nannte. Nach der kurzen, freundlichen Begrüßung nehmen die beiden in der Sitzecke des Büros Platz und Bill legt, vermutlich wie zuhause gewohnt, kurzerhand die Füße auf den niedrigen Tisch.
Nun sollte man, wenn man in Indien tätig ist, wissen, dass das allzu direkte Zeigen der Fuß- oder Schuhsohlen, wie es z.B. beim Übereinanderschlagen der Beine passieren kann, als Beleidigung gilt. Nicht umsonst droht man hierzulande bei gegebenem Anlaß mit den Worten: "Should I take of my chappel?", "Soll ich meine Sandale ausziehen?" [mit der Absicht, ggf. damit zuzuschlagen]. Abgesehen davon käme ohnedies nie jemand auf die Idee, in Anwesenheit Dritter die Füße auf den Tisch zu legen, Fußsohlen hin oder her.
Bill Smith aus den USA bemerkt nicht einmal den erstaunten Blick seines Gastes. Miss Mukherjee, innerlich mehr als empört, überlegt jedoch nicht lange, fasst sich ein Herz und - legt ihre Füße neben die seinen ebenfalls auf den Tisch. Nun ist es an ihm, irritiert zu sein. Eine Frau, eine indische Frau, die die Füße auf den Tisch legt? Das gab es noch nicht in Bill's Erfahrungshorizont. Der Wink mit dem Zaunpfahl wirkt. Bill lächelt verlegen, weiß nicht so recht, wie er reagieren soll und nimmt nach kurzem Zögern die Füße vom Tisch, worauf Miss Mukherjee nachzieht, um dann äußerlich ungerührt zum Thema ihres Besuchs zu kommen.
Wat lernt uns das?
Die Szene hat nur ein paar Sekunden gedauert. Und doch steckt darin vieles, das uns über das Kommunikationsverhalten zwischen den Kulturen, zwischen Mann und Frau und innerhalb der verschiedenen Kommunikationsebenen verbal/non-verbal Aufschluss gibt:
Trotz der freundlichen Begrüßungsworte - Bill demonstriert hier, über die bloße kulturelle Unsensibilität und die damit verbundene Unhöflichkeit hinaus, seinen Überlegenheitsanspruch, sein Dominanzempfinden: "Dies hier ist mein Revier! Ich bin hier der Leitwolf! Ich Dozent, du Student! Ich Mann, du Frau!" Dazu bedarf es keiner Worte. Rumms, Füße auf den Tisch! Körpersprache pur. Vermutlich hätte er sich (erst recht?) auch einem männlichen Besucher gegenüber so verhalten. Einer Frau gegenüber dürfte die Einschüchterungswirkung um einiges stärker wirken. Hypothetisch, aber deswegen nicht weniger interessant ist dabei die Frage, ob sich diese Szene so abgespielt hätte, wenn z.B. ein älterer Vorgesetzter den Raum betreten hätte...
Und die Besucherin? Instinktiv muss ihr wohl klar gewesen sein, dass es wenig Sinn gemacht hätte, diese Szene und ihr Unwohlsein verbal anzusprechen. Das Risiko einer Gegenattacke wäre groß gewesen: Wie hatte sie nur die Lockerheit dieses Treffens und die entspannte Atmosphäre so missverstehen können? "We in America..." Außerdem hätte Sie damit eher die Oberlehrerin spielen müssen, eine undankbare Aufgabe, zumal aus der Position der Jüngeren und der Studentin gegenüber ihrem Dozenten. Couragiert und souverän hat sie ihrer Empörung auf der gleichen, der körpersprachlichen Ebene Luft gemacht, die ihr gegenüber benutzt wurde. Sieger nach Punkten: Miss Mukherjee! Respekt!
[Das geschilderte Treffen verlief anschließend "ganz normal". Leider ist mir nicht bekannt, wie sich das Verhältnis der beiden danach noch entwickelt hat. Miss Mukherjee hat sich jedenfalls über diese Episode hinterher diebisch gefreut und von negativen Auswirkungen oder einer Retourkutsche hätte ich vermutlich erfahren.]