37 Alles oder Nichts
Vor einigen Jahren wurde ich im Rahmen meiner Tätigkeit als Projektsteuerer von einem ausländischen Kunden mit dem aufwendigen und technisch sehr anspruchsvollen Um- und Ausbau einer Immobilie beauftragt. Diese Immobilie befand sich im Besitz eines Generalunternehmers, der auch den Umbau übernehmen sollte. Der Auftraggeber hatte keinerlei Erfahrungen auf dem deutschen Markt und schon gar nicht mit dem Geschäftsgebahren der hier tätigen Generalunternehmen. Nach einigen Verhandlungsrunden, bei denen es vorwiegend um die gewünschte Ausführung und die Kosten ging, sollte der GU beauftragt werden. Zu meinem Erstaunen sahen beide Seiten keine Notwendigkeit, über die Maßnahmen, die immerhin einen siebenstelligen Betrag erreichten, einen schriftlichen Vertrag zu schließen. Angeblich fehlte hierzu die Zeit. Mein dringender Appell an beide Seiten, doch einen Rechtsanwalt zur Vertragsgestaltung hinzuzuziehen, verhallte ungehört. Schließlich konnte ich den Auftraggeber davon überzeugen, dass ein Vertrag u.U. ganz nützlich sein könnte - vielleicht dachte er irgendwann, es könnte zumindest nicht schaden. Jedenfalls hatte ich das Thema plötzlich selbst am Hals. Also machte ich mich an die Arbeit und schrieb die wichtigsten Dinge auf zwei DIN A4 Seiten herunter mit der Empfehlung, dies einem Juristen zur Prüfung und weiteren Ausarbeitung zu geben. Letzteres sei unnötig, befand man und nach einigen kleinen Änderungen wurde das Konzept durch Unterschriften zum Vertrag befördert.
Als ich das Papier schrieb, war mir bereits klar, dass das Projekt unter hohem Zeitdruck stehen und recht informell ablaufen würde. Um dennoch etwas Sicherheit einzubauen, hatte ich eine einfache Regelung vorgeschlagen, demzufolge der GU keine Kostenverpflichungen für den Auftraggeber ohne dessen schriftliche Zustimmung eingehen durfte. Schließlich sollte die zügige Projektabwicklung nicht durch komplizierte und bürokratische Hemmnisse ausgebremst werden.
Das Projekt lief mehr oder weniger wie alle Projekte: Es gab Änderungen, überraschende Erkenntnisse auf der Baustelle, Sonderwünsche, unvorhergesehene Ereignisse, Lieferantenwechsel, Materialänderungen, Missverständnisse, nichts besonderes also. Gelegentlich wurden auch Papiere zu Sonderwünschen und Kosten ausgetauscht, dies jedoch eher selten. Der GU lief im Großen und Ganzen alleine, es gab wenig Rückfragen und der Fertigstellungstermin wurde nur geringfügig überschritten. Das dicke Ende kam erst mit der vorgelegten Schlussrechnung, genauer gesagt, mit der Summe der geltend gemachten Zusatzkosten für tatsächliche und angebliche Sonderwünsche. Diese überstieg den Betrag der von mir geführte Liste der offiziellen Sonderwünsche um das Doppelte. Der Auftraggeber war entsetzt. Die nachfolgende Auseinandersetzung wurde mit harten Bandagen geführt. Es wurde, diplomatisch ausgedrückt, manchmal recht laut. Die Drohung des GU, die Türen wieder auszubauen, wurde mit der Androhung gekontert, in diesem Fall die Polizei einzuschalten usw. Schließlich einigte man sich darauf, Abstand zu halten und mir die Aufgabe zuzuweisen, die Rechnungsfrage zu verhandeln.
Meine Zusammenstellung der geltend gemachten Sonderwünsche und Kosten bestand aus drei Kategorien:
a) Sonderwünsche, die eindeutig schriftlich vorlagen,
b) Sonderwünsche, die nicht schriftlich belegt waren, die jedoch vom Auftraggeber unbestritten mündlich beauftragt waren und von diesem ohne weiteres anerkannt wurden,
c) Sonderwünsche, die vom GU geltend gemacht wurden, für die es jedoch keinen Beleg und von Seiten des Auftraggebers auch keine Kenntnis gab.
Erwartungsgemäß bestand die Taktik des GU darin, möglichst schnell einen möglichst hohen Betrag der strittigen Summe herauszuholen um sich dann ggf. um den Rest zu streiten. Ich sicherte dem GU zu, dass wir bei einer gütlichen Einigung Sonderwünsche auch dann anerkennen würden, wenn sie nicht nach dem Buchstaben des Vertrags vor Ausführung schriftlich bestätigt wurden. Sollten wir nicht zu einer einvernehmlichen Lösung kommen, würden wir nicht vertragsgemäß belegte Forderungen generell ablehnen. Zugegeben, es war die klassische Taktik von Zuckerbrot und Peitsche: Entweder die Chance, Zusatzleistungen der Kategorie b) ohne größere Probleme bezahlt zu bekommen, auch wenn diese nicht vertragsgemäß angemeldet worden waren, oder eben um die Kosten der Kategorien b) und c) insgesamt streiten zu müssen. Zu den Unsicherheiten zum Ausgang eines Rechtsstreits würde sich noch das Risiko zusätzlicher Gerichts- und Anwaltskosten addieren. Vom Auftraggeber war schließlich nicht zu erwarten, dass er Zusatzleistungen bezahlen sollte, die er weder beauftragt, noch von denen er überhaupt Kenntnis hatte, weil sie der GU aus eigenem Ermessen veranlasst hatte. Andererseits erklärte dieser sich aus Fairnessgründen bereit, auch jene Kosten zu bezahlen, die zwar nicht den vereinbarten Formalitäten folgten, die jedoch mit ausreichender Sicherheit plausibel gemacht werden konnten.
Wir baten also den GU, über die nicht anerkannten, jedoch geltend gemachten Zusatzkosten entsprechende Belege vorzulegen. Daraufhin konnte er einige Dokumente und Gesprächsnotizen ausgraben, die dem Gedächtnis auf Auftraggeberseite nachhalfen. Außerdem erinnerten sich die Mitarbeiter aufgrund der Diskussion auch an einige weitere Positionen, die z.T. im direkten Gespräch auf der Baustelle veranlasst, aber nie schriftlich festgehalten wurden. Auch diese Positionen rutschten in die anerkannten Kategorien meiner Übersicht. Übrig blieben dann immer noch eine ganze Reihe von Arbeiten, über die es keine Belege gab, und an die sich auf Auftraggeberseite auch niemand erinnerte.
Natürlich gab es darüber noch einige heftige Diskussionen, aber schließlich musste der GU einsehen, dass der Fehler ursächlich bei ihm lag und der Auftraggeber ihm nicht aus formalen Gründen einen Strick drehte, sondern ihm soweit als möglich entgegengekommen war. Nach der abschließenden Diskussion und einer anschließenden Bedenkzeit von 30 Minuten erfolgte dann das endgültige okay von beiden Seiten.
Wat lernt uns das?
1. Banal, aber offenbar manchmal nicht selbstverständlich: Es ist gut, Vereinbarungen schriftlich zu fassen.
2. Manchmal reichen knappe Formulierungen von Kernpunkten in klarer, nicht juristisch verbrämter Sprache aus, um getroffene Absprachen eindeutig festzuhalten (wobei es unbestritten besser wäre, sich des juristischen Sachverstands und der Kenntnis der aktuellen Rechtslage zu versichern).
3. Taktische Überlegungen sind im Rahmen von Verhandlungen wichtig und legitim, so lange sie nicht dazu dienen, sich unfaire Vorteile zu schaffen oder das Ergebnis zu manipulieren.
4. Es zahlt sich bei Verhandlungen aus, so lange im Konjunktiv zu bleiben, bis das Gesamtpaket abschließend definiert ist. Wenn die Forderungen nach Kategorie b) direkt anerkannt und vielleicht sogar ausbezahlt und nicht nur in Aussicht gestellt worden wären, hätte bei der oben geschilderten Verhandlung die Gefahr bestanden, dass der GU nach Salamitaktik erst einmal alles nimmt, was er bekommen kann, um dann mit relativ geringem Risiko noch um den Rest zu streiten und einen Vergleich anzustreben.